Rezensent: Detlef Klöckner, Frankfurt, www.kloeckner-consult.de
Aus: Gestalt-Zeitung 2005
Der Mann schreibt elegant (und emotional). Das Zweite tarnt er hinter Illustrationen und unter Abstraktionen und Formalisierungen, aber die kommen dem Thema zugute. Schließlich ist er Systemiker (die tun sich mit Gefühlen nicht so leicht) und schließlich handelt es sich um ein Fachbuch, und man will wissen, was sind die theoretischen Referenzkontexte, die zu dem führen, was Arnold Retzer unter Systemischer Paartherapie versteht. Das Buch beginnt mit einem prozessualen Zirkel: Am Anfang ein Ende; meint, Paare, die zur Paartherapie kom-men, haben ihre Liebe (vorübergehend) verloren. Am Anfang war da etwas, was jetzt nicht mehr so ist, aber vielleicht wieder entstehen könnte, anders. Retzer verweist auf den Kinofilm Don Juan de Marco, auf die Szene, in der das alternde Paar (der Psychiater und seine Ehe-frau: Marlon Brando und Faye Dunaway) erneut beginnt, sich zu fragen. Sich der Liebe we-gen zu befragen, heißt, das Emotionale der Paarbeziehung in Kommunikation zu bringen.
Gegenstand des Buches sind Kommunikationen und Kommunikationssysteme, die mittels Liebe Sinn in ihre Welt bringen und im Verspielen der Liebe ihrem Leben den Sinn wieder entziehen. Man kann die Liebe auf vielerlei Arten an die Wand fahren. Davon wird berichtet und davon, welche therapeutischen Chancen bestehen, auf eine derart sinnentleerte Kommu-nikation sinnstiftend rückzuwirken, von der abhanden gekommenen Liebe ausgehend, eine Neu-Kommunikation der Liebe anzubieten.
Darin liegt ein wichtiger Unterschied dieses Buches zu anderer Literatur, die sich aus thera-peutischer Sicht mit der Liebe und Liebesbeziehungen auseinandersetzt. Wer Therapie auf Kommunikation und Sinn aufbaut also nicht auf Personen und Beziehungen muss sich als Paartherapeut nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob eine Paarbeziehung besser enden oder weitergeführt werden sollte? Systemische Paartherapie schaut darauf, ob die Liebe an-wesend oder abwesend ist, mithin, ob Sinn vorhanden ist.
Wer von Kommunikationen ausgeht, kommt auch fast zwangsläufig auf andere wichtige Ge-biete der Liebe zu sprechen: Auf Liebesgeschichten Liebe erhält sich und wandelt sich durch seine Erzählungen, auf die exklusive Funktion der Liebe das Paar schließt die Um-welt aus, inklusive Funktionen die verinnerlichende Wiederverzauberung der Welt, der Kommunikationscode der Liebe wie wir in Sprache sozialisiert empfinden, was wir als Liebe empfinden, und weitere Kontexte.
Retzer unterscheidet die Kommunikation in Liebesbeziehungen von der in (familiären, beruf-lichen, politischen, etc.) Funktionsbeziehungen als Unterschied zwischen ganzheitlichen und selektiv-gehemmten Verhaltensmustern. Die Liebe ist das Überbordende, Allumfassende, welches über rollenbedingte Alltagsfragmente der Person hinausweist: Ein Herz und eine Seele versus Klopfen abwechselnd mehrere Teilherzen/-seelen in meiner Brust. Retzer sieht das Merkmal der Ganzheitlichkeit, der Radikalität der Liebe gleichzeitig als ihr größtes Ge-fährdungspotential. Warum das so ist, erklärt er an der Unterscheidung von Liebesbeziehun-gen und Partnerschaften. Hier steht das Absolute gegen die Entschlusskraft des Vertraglichen, das Ungleiche gegen das demokratische Gleichheitsgebot. Heutige Paarbeziehungen vereinen beides und unterliegen damit einem immanenten Widerspruch, den sie balancieren müssen. Die Gebote nach sozialer Symmetrie treffen auf die Bedingungslosigkeit der Liebe, die nicht fair ist und nicht gerecht. Man kann sich niemandem völlig hingeben und auf Demokratie pochen.
Die Liebe, so Retzers Hypothese, sperrt sich gegen Mitbestimmungsrechte und die Gesetze des Tauschhandels. Und genau da wird es für Paare interessant, weil wir in Beziehungen mehr denn je auf Ausgleich achten und emotional aufrechnen, was uns gemeinsam widerfährt. In Paarbeziehungen wird die Liebe unter Partnerschaftsgesichtspunkten ausgewertet (Während ich das schreibe an meinem Urlaubsort, schreit und weint sich eine Frau in der Nachbarschaft gerade ihren Frust von der Seele, dass ihr Mann ihren Einsatz für das Gelingen des Urlaubs nicht würdigt. Der Lautstärke und Länge ihrer Klage nach zu urteilen, empfindet sie eine ek-latante Unausgeglichenheit.). Der Mensch der Postmoderne ist in seinem selbstbewussten Bemühen um Gleichheit eigentlich nicht für die Gaben und Gnadenerweise der Liebe geeig-net. Wir suchen nach Austausch, dem ausbalancierten Handel, der nicht übervorteilt. Das ist das Paradox, das es für Paare zu stemmen gilt. Retzer geht davon aus, dass sich beide Sinn-systeme ausschließen. Die Liebe kann nicht verhandelt werden und dennoch sind wir auch Tauschpartner. Ein Herz kann man nicht kaufen, den Partnerschaftsgedanken aber auch nicht negieren.
Wie können Paare hinbekommen, die unmögliche Liebe im Rahmen einer Beziehung zu le-ben und wie scheitern sie daran? Das ist die zentrale Frage, die sich der Autor stellt, wenn er die Elemente und Themen systemischer Paartherapie erläutert und an Fallbeispielen illustriert. Systemische Paartherapie stört Muster, möglichst so, dass problemproduzierende Aktivitäten nachlassen und lösungskonstruktive Handlungen zunehmen. Wie das gemacht wird, nimmt im vorliegenden Band den größten Raum ein, muss im Rahmen dieser Rezension aber nicht en detail berichtet werden. Deshalb nur einige instrumentelle Stichworte zur Paartherapie: Zir-kuläres Befragen des Paares, Neutralität des Therapeuten, Interventionen, die Unterschiede zur erzählten Geschichte anbieten, etc. Das paartherapeutische Setting wird erläutert und die ausgebreiteten Fälle demonstrieren eindrucksvoll die Anwendung der theoretischen und me-thodischen Überlegungen.
Hervorzuheben ist noch das kulturanthropologische Konzept des Wandels, dass der Autor der Entwicklung von Paaren unterlegt. Die angeführten Entwicklungsphasen selbst wirken, im Gegensatz zu den anderen Bearbeitungen des Buches, etwas hingeworfen (damit es auch noch eine Systematik erhält?). Da kann man sich andere Unterscheidungen vorstellen. Nach all diesen kurzen Abhandlungen kommt es zum Sex. Sex als Teil des Paares und Paarprob-leme als Teil von Sexualproblemen werden unter dem Gesichtspunkt von zu viel zu we-nig, gut oder schlecht beschrieben. Womit er in den letzten Abschnitt überleitet, den Kon-flikten bzw. Konfliktkulturen.
(Sein) Fazit: Die Liebe ist nicht domestizierbar und kann nicht in Dosen verabreicht werden. Man kann sich auch keine Verdienste in Liebesbeziehungen erwerben, um geliebt zu werden. (a) Die Liebe ist oder ist nicht. Auf die Existenz der Liebe zwischen zwei konkreten Men-schen kann man nicht hinarbeiten. (b) Paarbeziehungen funktionieren gut oder schlecht. Dafür kann man etwas tun und manchmal gelingt, dass die Liebe langfristig in einer wohltuenden Beziehung existiert. Das nennt man dann Glück. Manchmal kommt es auch mit Hilfe von Paartherapien dazu.
Das Buch enthält alles, was man zum Thema braucht. Schön ist, das sich da jemand in der Philosophie auskennt und historische Bezüge herstellen kann, was der Autor ausgiebig tut. So ist der Band gerade so gebastelt, dass die Komplexität des Themas nicht erschlägt, die Dinge der Liebe aber dennoch prägnant und übersichtlich abgehandelt werden. Wie eingangs gesagt: sehr gut formalisiert und respektvoll für die Gefühlswelt der Liebespaare (siehe Fälle). Denn, Kommunikationscode hin oder her, wer nicht andeuten würde, dass er mitfühlt, würde an Liebe und Liebesleid vorbeikommunizieren, als Liebender und therapeutischer Funktions-partner. Es ist der Drahtseilakt gelungen, das Thema neutral und engagiert darzustellen. Das Buch ist (mal wieder) gut.
Detlef Klöckner
Rezensent: Rudolf Klein, Merzig/ Deutschland
Aus: Systemmagazin, www.systemagazin.de
Auf der neueren Systemtheorie aufbauend und in Abgrenzung zu einem alltagssprachlichen Konzept, das Paare als Gebilde ansieht, die aus zwei, auf irgendeine Art und Weise miteinan-der verbundenen Personen bestehen, gründet Retzer seine theoretische Ausgangsposition. Die Systemtheorie versucht zu beschreiben, was in solchen Paarbeziehungen geschieht, wa-rum das, was dort beschrieben werden kann, geschieht, und wie das, was geschieht, von den unmittelbar Beteiligten selbst beschrieben, erlebt, erlitten und manchmal auch genossen wird. Dazu stellt die neuere Systemtheorie von einer personendefinierten Mitgliedschaft auf Sinn- und Funktionssysteme um. (S. 19) Spezifische Bedeutungsgebungen, die wechselseitig und fortgesetzt die jeweiligen Handlungen zu kommunikativen Akten werden lassen, werden so zu zentralen Operationen des Systems. Sie können erklärenden Wert im Hinblick auf die Fra-gen bekommen, was der Sinn ist, der Paarbeziehungen erzeugt, begründet, aufrecht erhält und sie nach außen hin abgrenzt.
Von dieser theoretischen Basis ausgehend wirft Retzer zunächst folgende Fragen auf: Wie können zwei Personen dazu gebracht werden, in höchst unwahrscheinlicher Weise ihre Kommunikation so zu koordinieren dass daraus der Beginn einer Paarbeziehung werden kann? Welche Voraussetzungen müssen für diese regelmäßig erzeugte Unwahrscheinlichkeit gegeben sein? Wie ist überhaupt zu erklären, dass zwei Menschen sich mehr oder weniger langfristig zusammentun und bestimmte Gefühle füreinander entwickeln? Warum tun sie dies alles, obwohl es dazu keinerlei natürliche Notwendigkeit gibt? (...) Was ermöglicht also eine Paarbeziehung, was ohne eine Paarbeziehung nicht oder nur schwer möglich wäre? Er be-antwortet sich diese Fragen, indem er postuliert, er hege keinen Zweifel daran, dass in unse-rer abendländischen Kultur die wichtigste Antwort, vielleicht sogar die einzig mögliche Ant-wort auf all diese ersten Fragen die Liebe sein (S. 21) müsse.
In beeindruckender Weise führt der Autor im Folgenden aus, auf welche Art die Liebe von anderen Wahrnehmungen unterschieden werden kann und gibt jeglichen Versuchen, sie als biologisches oder natürliches Phänomen zu betrachten, eine Absage. Vielmehr sei eben nur die Rede von der Liebe, die man hat, findet oder eben auch wieder verliert. Der Gegenstand der Liebe sind Geschichten, Liebesgeschichten oder Mythen. (S. 23)
Sich soziologischer, philosophischer, literarischer und historischer Quellen bedienend, arbei-tet Retzer dann Liebesmythen heraus, mit denen Intimität aus einer system- und differenz-theoretischen Perspektive beschrieben und deren Funktionen für das Paarsystem bestimmt werden können: Durch exklusive und und inklusive Funktionen des Liebesmythos.
Diese sehr differenzierten und interessanten Ausführungen münden in die Darstellung eines Kommunikationscodes der Liebe (S. 45) und grenzen die Kommunikation in Funktions-systemen wie z.B. der Partnerschaft oder der Familie von der in Liebesbeziehungen ab. Da-von ausgehend zeigt er sieben Liebesprobleme auf, die von der Verpflichtung, richtig zu lieben (S. 49) bis zu Sexualität und Liebe (S. 54) reichen.
Im Anschluss beschreibt Retzer die Differenz von Partnerschaft und Liebesbeziehung als zwei unterschiedliche Sinnsysteme. Eine Differenz, die m.E. in der gängigen paartherapeutischen Literatur zwar immer wieder anklingt, jedoch systemtheoretisch kaum herausgearbeitet wurde. Der Höhepunkt im Rahmen dieser Unterscheidung stellt für mich die Differenz von Gabe und Tausch dar, der eine deutliche Erweiterung herkömmlicher Geben-und-Neh-men-Ausgleichsdebatten darstellt.
Ist das Buch bis zu diesem Punkt ein Leckerbissen für Leser, die an sauber aufgebauten und stringent durchdachten Konzepten interessiert sind, so fehlt es dennoch nicht an fast unver-mutet eingestreuten Passagen, die man sich am liebsten selbst (vielleicht dem Partner?) oder auch Klienten von Zeit zu Zeit vorlesen möchte: Zum Heiraten sollte es vielleicht nur einen plausiblen Grund geben: Man sollte nicht anders können als zu heiraten, um dann miteinander zu leben, um in der Einsamkeit, die uns umgibt, jemanden zu haben, der uns nicht eintauschen will, der bereit ist, die Berechtigung unserer Existenz mit all unseren Fehlern und Mängel zu bestätigen. Der sagt: Ich gebe dich nicht her! (...) Man kann sich versprechen, sich genau zu überlegen, was man dem anderen sagt, besonders dann, wenn man sich über ihn geärgert hat und man zornig auf ihn ist. Man kann sich versprechen, sich lieber selbst auf die Zunge oder in andere Körperteile zu beißen, als ich mit diesen bekannten widerwärtigen, geschmacklosen, hässlichen Worten zu traktieren, von denen man so genau weiß, wie sie den anderen ver-letzen. (S. 81 f.)
Im praktischen Teil mit dem Titel Das Kunsthandwerk des systemischen Paartherapeuten (S. 83) wird die Kunst und das dazu gehörende Handwerk der systemischen Therapie aufge-zeigt und in den nachfolgenden Kapiteln anhand unterschiedlicher Fallbeschreibungen und Therapietranskripte dargestellt. In diesen Passagen erweist sich der Autor nicht nur als beein-druckender Theoretiker, sondern auch als exzellenter Praktiker. Besonders lesenswert sind dabei die Abschnitte Die Kunst der Einladungen: Einladungen erkennen, bevor man sie an-nimmt (S. 124 ff.) und die Kunst der Triangulation: Was tun? (S. 135 f.). Lesenswert und wichtig v.a. deshalb, weil Paare immer wieder vor der Aufgabe stehen, mit Triaden und damit potenziell mit Triangulationen zurecht kommen zu müssen. Der oder das Dritte im Bunde kann vieles sein: ein Kind, ein Geliebter oder eine Geliebte, Menschen aus den Herkunftsfa-milien, die Arbeit und: Paartherapeuten. Störungen der Intimität wo immer man hinschaut. Hier liefert Retzer viele nützliche, teils humorvolle, teils anrührende Ideen für die therapeuti-sche Arbeit, auf welche Weise Paare Dritte integrieren und wie sie Dritte zur Wiederherstel-lung der Paarintimität wieder ausschließen können.
Das Buch endet mit zwei Kapiteln, wobei das erste der beiden Womit auch zu rechnen ist sich speziellen Herausforderungen in der Paartherapie widmet (Sex, Affären, Konflikte). Be-sonders angeregt wurde ich hier durch seine Ausführungen zu den Begriffen des Ausgleichs für von mindestens einem Partner als schuldhaft definierten Verhaltens (im Falle einer Affäre) einerseits und dem Begriff der Vergebung als eine mögliche alternative Umgangsform da-mit. Es geht dabei gerade nicht um den üblichen zukunfts- und lösungsorientierten Options-diskurs, der von Schuld und Schuldvorwurf entlasten soll, sondern im Gegenteil: es geht um einen vergangenheits- und problemorientierten Schuld- und Vorwurfsdiskurs. (S. 277) Hier werden die einzelnen Schritte (S. 280 ff.) einer Art von Vergebungsritual beschrieben, das sich von den überwiegend in Paartherapien anzutreffenden Ausgleichsvorstellungen für als schuldhaft bewertetes Verhaltens abhebt. Das Ziel dieses schrittweisen Prozesses besteht in der Wiederherstellung der durch die Affäre (Hinzunahme eines Dritten) verletzten Dyade.
Konsequent wird dieser Gedanke, die Wiederherstellung der Intimität in der Dyade, auch auf die Funktion des Paartherapeuten für das Paar übertragen, was bei erfolgreicher Therapie den Ausschluss des Paartherapeuten zur Folge haben muss. Sein (des Paartherapeuten R.K.) Ziel darf es daher nicht sein, solange wie möglich für das Paar der unentbehrliche Helfer zu sein, denn dadurch behindert er möglicherweise die Dyade unnötig in ihrer Selbstkonstituierung. (S. 279).
Das letzte Kapitel schließlich widmet sich den Entwicklungsphasen von Paarbeziehungen und beschreibt insgesamt zehn Herausforderungen an die Transformationsfähigkeit von Paa-ren. Dabei werden Themen wie Partnerwahl, Kinder, Karriere, Pensionierung und Tod be-rührt.
Fazit: Das Buch von Arnold Retzer ist, da stimme ich dem Klappentext zu, ein Informations-buch, ein Nachdenkbuch, ein Lehrbuch und ein Anregungsbuch zugleich. Die Lektüre hat obwohl ich mit vielen Gedanken und Konzepten Retzers vertraut bin meinen paartherapeu-tischen Überlegungen auf sehr angenehme Art frischen Wind beschert. Es ist (für mich) das beste Buch 2004.
Rudolf Klein
Rezensent: Siegfried Alexander Henzl, Vöcklabruck-Wien, www.henzl.at , www.systemischefamilientherapie.at
Aus: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung,
In aller Bescheidenheit konzipiert der Klappentext des vorliegenden Fachbuches dieses als
- Ein Informationsbuch für alle, die sich mit Paaren beschäftigen;
- Ein Nachdenkbuch für alle, die über eigene Paarbeziehung
reflektieren;
- Ein Lehrbuch für diejenigen, die Paartherapie lernen wollen oder schon durchführen;
- Ein Anregungsbuch für alle, die mit dem Phänomen Liebe und Paarbeziehung immer noch nicht fertig sind. Retzer spannt in seinem Buch Systemische Paartherapie einen Bogen von einem philosophischen Diskurs zum Phänomen Liebe, zu einer differenzierten Theorie systemischer Paartherapie hin zu einer komplexen Methodik der therapeutischen Arbeit mit Paaren. Ausgangspunkt ist die Differenzierung der unterscheidbaren Sinnsysteme Liebesbeziehung und Paarbeziehung sowie ihre Funktion als Kontext Problem erzeugender und Problem lösender
Bedeutungsgebung. Der Autor bedient sich bei der Beschreibung des Liebesmythos philosophischer, literarischer, historischer und soziologischer Quellen. Intimität wird mit einem system- und differenztheoretischen Fokus beschrieben. Als dynamisierendes Element im Paarsystem werden die exklusive und inklusive Funktionen von Liebesmythen hervor gehoben. Mit der Definition von Liebesbeziehung und Paarbeziehung als unterscheidbare Sinnsysteme
zeigt Retzer die Widersprüchlichkeiten mythologischer Ursprünge, soziokultureller Anforderungen, individueller Erwartungen und subjektiven Erlebens auf. Wie kann es Paaren gelingen, die unmögliche Liebe im Rahmen von Paarbeziehung zu leben und wie scheitern sie
daran? Wann, wie und wo beginnt die Alltagsorganisation von Paarbeziehung die Liebeserwartungen von Paaren zu desillusionieren? Im zweiten Kapitel Das Kunsthandwerk des systemischen Paartherapeuten folgt Retzer seinem Grundverständnis, dass psychotherapeutisches Handeln in seiner Performance künstlerische und kreative Herausforderung ist. Die Theorie wird zur handlungsanleitenden Perspektive, der Akt ist das ästhetische Kunstwerk. Aspekte des Verstörens, zirkulärer Befragung, die Konzeption der Neutralität, Markierungen im therapeutischen Setting, sowie die Kunst der Triangulation als paartherapeutische Intervention stehen dabei im Mittelpunkt. In diesem Kapitel zeigt sich die
langjährige paartherapeutische Erfahrung des Autors. Die Darstellung von zwei paartherapeutischen Konsultationen unterlegt die vorweg fokussierten Methoden und demonstriert den Theorie-Praxis-Transfer. Paartherapie wird als ein Übergangsritual interpretiert. Strategien des paartherapeutischen Scheiterns beenden die methodologische Abhandlung. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den Themen Sex in Paarbeziehung, Affären und Konflikt (Konfliktkultur) und welcher Stellenwert Paartherapie im jeweiligen Problemfeld beigemessen wird. Im letzten Kapitel werden den individuellen Vorstellungen von Paarbeziehung und damit verbundenen möglichen Zielen in unterschiedlichen Lebensphasen, Fragen der Entwicklung von
Paarbeziehung gegenübergestellt. Themen wie Partnerwahl, Elternschaft, Alter und Tod werden hier berührt. In der Herausforderung zur Umwandlungsfähigkeit von Paaren zeigt sich die
abschließende Perspektive Fazit: Dieses Buch erfüllt alle im Klappentext angeführten
Ankündigungen und noch mehr. Es fordert den/die LeserIn nicht nur heraus Denken und Handeln in welcher Rolle auch immer zu überprüfen, sondern dieses bezogen auf paartherapeutisches Handeln zu korrigieren Das Buch versucht nicht nur eine stringente Theorie und Methodik
systemischer Paartherapie zu konstruieren, es ist auch ein sprachlich ästhetisches Werk. Retzer reduziert von der ersten bis zur letzten Seite Komplexität und lichtet das Dickicht der Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen des Lesers. Auftauchende Fragen werden unter Begleitung der Konzepte der modernen System- und Kommunikationstheorie beantwortet. Gleichzeitig wird dabei vermieden, Rezepte zu vermitteln. Geschlechtssolidarisierende Kampfansagen und moralisierende Solidaritätskundgebungen bleiben allerorts aus. Über den formalen Diskurs hinausgehend erzählt das Buch von Liebes- und Paargeschichten und wird zu einem anspruchsvollen Lese Buch für PraktikerInnen systemischer Paartherapie. Auch wenn in diesem Buch dem Modell der Neutralität ein bedeutungsvoller Platz eingeräumt wird kommt man nicht umhin dieses Buch parteilich zu empfehlen.
Siegfried Alexander Henzl