Rezensionen Passagen



Retzer, A.: Passagen –Systemische Erkundungen
Stuttgart (Klett-Cotta)



Rezensent: Detlef Klöckner, Frankfurt, www.kloeckner-consult.de
Aus: Gestaltzeitung

Vorab das Fazit, dann eine initiale Frage: Der Heidelberger Systemiker Arnold Retzer hat meiner Auffassung nach ein kluges, vielleicht gar wegweisendes Buch zusammengestellt. Was macht es nun gerade für GestalttherapeutInnen lesenswert? Hierzu möchte ich im Fol-genden den einen oder anderen Hinweise geben.
Passagen setzt sich aus verschiedenen, über die Zeit entstandenen Materialien des Autors zusammen und beschreibt das individuelle Leben und soziale Miteinander als ständigen, in Bewegungen und Übergängen verlaufenden Prozess mit existenziellen Themen als Motivfo-lien. Die Themen werden als die eigentlichen Kräfte wechselhafter persönlicher Perspektiven und Begrenzungen gesehen, als Drehpunkte, die über den individuellen Horizont hinauswei-sen. Retzers gedanklicher Hintergrund bildet neben einer Reihe systemischer Formalisierun-gen das Prozessschema des belgischen Ethnologen Arnold van Gennep, er ordnet seine Aus-führungen ganz in diesem Sinne an.
Das Buch hat demnach drei Hauptabteilungen mit Unterkapiteln, die das Prozessgeschehen als eine Durchschreitung von Zeit und Raum beschreiben, in dem Anfänge, Übergänge und Endpunkte existieren, die aber nicht einfach und linear nur Anfänge, Übergänge und End-punkte sind, sondern immer zweideutige, verbundene, ineinander verschachtelte Entwicklun-gen und verwickelte Beziehungen darstellen. Die Abteilungen heißen folgerichtig Ausgänge, Unterwegs und Ankunft. Ausgänge werden in zwei Richtungen gesehen: Sie verweisen auf etwas bereits Erfahrenes, Zurückliegendes, Hintergründiges und bilden die Schwelle, den Ausgangspunkt für Neues. Die Bedeutung des Unterwegs bezieht sich auf den aktiven Bewe-gungsspielraum, der das Voranschreiten, Grenzen überschreiten, auch Wiederholen, stehen bleiben und zurückgehen gleichermaßen enthält. Ankunft meint dann einen erkennbaren End-punkt, ein vorläufiges Ziel. Aus der Konsequenz seiner Prozessdefinition bleibt Ankunft eine Überschrift ohne eigenen Text. Weitere Beschreibungen würden sich wieder an Ausgänge anschließen, müssten über einen entstandenen Ausgang berichten und als noch-nicht-Antizi-pation einen neuerlichen Ausgang skizzieren. Die formale Struktur und der Inhalt der Passa-gen bilden so eine, soweit es ihm möglich erscheint, sich schließende Prozessgestalt, entspre-chend den uns bekannten Prinzipien von Gestaltbildungsprozessen.
Im Eingangsabschnitt Ausgänge widmet sich Retzer Voraussetzungen und Kriterien mensch-licher Erfahrung, die er bereits in mehreren Aufsätzen und eigenen Ordnungsversuchen dar-gestellt hat. Hier wird nun sein hauptsächliches Aussagengerüst einmal in geballter Samm-lung zusammengetragen. Es beginnt mit Sprache. Retzer entwickelt in diesem Kapitel seine mittlerweile schon bekannten Hypothesen des individuellen (Er)lebens als Funktion und Aus-druck erzählten Lebens. Das Leben wird mittels Sprache und verschiedener semantischer Grundoperationen der Wahrnehmung als eine sich aufbauende, veränderliche Narration begrif-fen, die wiederum einer komplexitätsreduzierenden Ordnung und Verortung von Erfah-rungen dient. Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen sind die verwendeten Meta-phern zugrundeliegender, Erfahrung verarbeitender Operationen, die zusammen Muster erge-ben, welche individuelle und kollektive Wirklichkeiten gestalten und transportieren. Erzähltes Leben ist so gesehen nicht einfach erfahrenes Leben, es ist vor allem Kreation, aus Erfahrung resultierendes erfundenes Leben, das, was in die Kommunikation zwischen Menschen einge-bracht wird, aber auch die (stumme) Selbstreflexion ausmacht.
Erleben und Erzählen werden voneinander getrennt gedacht, pragmatisch koevolutionieren sie als komplementäre Erfahrungsdimensionen. In gewisser Weise siedelt Retzer Erleben und Erzählen gemäß einer allgemeinen Beobachterproblematik von Erfahrung in ein ähnlich inter-aktives Modell an wie der Gestalt - Ansatz die Figur – Grund Interaktion. Wahrnehmbares Verhalten innerhalb eines sozialen Prozesses gegenseitiger Beobachtung beteiligter Kommu-nikationsteilnehmer und auch als Selbstbezug gehört bei Retzer in Form der Erzählung zum Bereich von Kommunikation und Sprache (für den Gestalt – Ansatz handelt es sich dabei um Elemente des Vordergrunds, um die aus Erfahrungsquellen und Situationen resultierenden Figuren, auch Sprachfiguren im engeren Sinne.), Erleben erfasst das individuelle und aus-sersprachliche Mehr der Erfahrung (berücksichtigt damit eine ähnlich erweiterte Erfahrungs-umfassung und Wirklichkeitsbasis wie der Hintergrund für die Gestalttheorie).
Ähnlich systematisierend und basal geht es weiter, wenn Retzer an Hand von Begriffen wie Kontingenz und Unbestimmtheit erklärt, wie subjektive, sozial determinierte Wirklichkeiten über Akte von Kommunikation entstehen, erhalten, transportiert, transponiert und verworfen werden, wie Sprache Bedeutung konstruiert und Bedeutungen gebraucht. Ebenso bedingt die Art der Kommunikation was und wer als zur Kommunikation, zur Wirklichkeit Gehörender/s erfahren wird und was oder wer nicht. Am Beispiel der Therapie von Schizophrenie wird dies anschaulich verdeutlicht. Der psychotische Klient wird von seinem sozialen Umfeld oft als jemand behandelt, der überhaupt nicht oder wenigstens nicht verlässlich kommunizieren kann. Dadurch, dass andere reflexhaft für ihn sprechen, denken, Bedeutungen vermitteln und handeln, wird er durch die ‚Hilfsarbeiten’ anderer sozusagen exkommuniziert. Die Aufgabe von Therapie, nach Retzer eine Idealform sozialen Handlungsraums, ist es, von Anfang an dieses kommunikative Muster durch gleichberechtigte Ansprache an den Klienten – im Ver-ständnis der systemischen Therapie: der Indexpatient - zu stören, den Exkommunizierten wie-der in die Kommunikation einzuführen und ihn über diesen Akt wieder einzugemeinden.
Therapeutische Konversation, eine Kommunikation, die Weiterentwicklung bewirken soll, braucht daher bestätigende und störende Anteile, auch bedeutungskryptische Leerstellen, die zu füllen sind, um über die Problem-Gestalten hinauswachsen zu können. Zu diesem Zweck macht Retzer eine Reihe formaler Vorschläge, die eine pragmatische Perspektive und Hand-lungsstrategie ermöglichen. Beispielsweise, wie sich selbstbestätigende ungünstige Kommu-nikationsschleifen beobachten lassen und neue, günstigere Ausgänge angeboten werden kön-nen. Kurz, er veranschaulicht an Fällen etliche Kommunikationsdimensionen, mit deren Hilfe private Problemerhaltungstheorien und -praxen in Lösungsermöglichungsverhalten transfor-mierbar werden.
Der Prozess der Psychotherapie wird hierbei als ein Übergangsritual angesehen (vgl. GES-TALTTHERAPIE 2001/2, Klöckner: Übergangsphasen), dass dem Klient helfen soll, aus einem Zustand von Selbstblockierung auf die Seite der fortfahrenden Entwicklung zurückzu-finden. Therapie wäre analog des aufgegriffenen van Gennepschen Prozessschemas die unter-stützende Handlung, die einem Menschen zunächst ermöglicht, über eine Schwelle zu gehen und sich von Überholtem zu trennen, wenn es nötig ist. Dann, in dem so entstandenen Neu-land, zu einem großen Teil das gemeinsame Praktizieren von weder – hier - noch - da - Situa-tionen, der eigentlichen, zunächst diffusen, Übergangsphase, das gemeinsame Erkunden der individuellen Dis-position (vgl. die Übergangsphase mit der Perlsschen Engpaß - Metapher) und schließlich die Integration einer neuen, komplexeren Wirklichkeit und Sinnsphäre.
Über die Kommentierungen der Begriffe Zeit, hier macht er Einschübe zu regressiven und progressiven Entwicklungen und ihre qualitativen Verdrehungen, und Raum als zu füllender und zu berücksichtigender Rahmen für individuelle und therapeutische Anliegen, arbeitet Retzer akribisch psychologisch relevantes Grundlagenmaterial durch und nimmt in der zwei-ten Abteilung, Unterwegs, thematische Blickwinkel ein, die er mit Metaphern wie Krankheit, Gewalt, Ethik, Selbst, Suizid und Risiko überschreibt. Diese Begriffe sind nicht wahllos be-nutzt, sondern sie etikettieren eingeschobene Reflektionen zu wichtigen Themen und auftre-tenden Sachverhalten im Zusammenhang mit Veränderungsprozessen in der Praxis, wie pro-zessorientierte und erfahrene GestalttherapeutInnen sich zur Genüge vorstellen können. „Grenzüberschreitungen können eigene Erfahrungen sowohl erweitern als auch begrenzen. Nur wer sich Fremdem und Befremdlichem aussetzt gewinnt, auch über das Eigene. Das An-dere jenseits der Grenze lässt eigenes erfahren: das eigene Andere, das Eigene des Anderen und das andere Eigene.“ ( 107)
Dieses Zitat, das eine erkennbare Übereinstimmung mit gestalttheoretischem Gedankengut ausdrückt, pointiert Retzers Auswahl an Themen. Wobei er seine explizit therapeutische Haltung auch gegenüber schwierigen Themen als Standpunkt einer mehrfach differenzierten Neutralität versteht. In gewisser Hinsicht sind seine Ausführungen hierzu (siehe Zitat weiter unten) vergleichbar mit der gestalttherapeutischen Grundhaltung, die man in Abgrenzung zum seinem Neutralitätsbegriff vielleicht eher engagierte Offenheit nennen könnte, wenngleich sich hinsichtlich der praktischen Durchführung, der unterschiedlichen Gewichtung des thera-peutischen Beziehungsangebots wohl nach wie vor Gräben zwischen der systemischen und gestalttherapeutischen Praxis auftäten. Systemiker – ja, besonders auffallend die Männer! - glauben nicht daran, dass man trotz direkter Kontakt- und Erfahrungsangebote perspektivisch neutral und genügend therapeutisch abstinent bleiben kann. Wahrscheinlich hat diese Kon-zeptschwäche viel mit dem Selbsterfahrungsmangel - und dem dabei erlangbaren containment - der systemischen Therapieausbildung zu tun. Man darf nicht vergessen, dass die systemische Therapie in Deutschland, bzw. in Heidelberg von Helm Stierlin initiiert, aus der kontaktpho-bischen Tradition der Psychoanalyse entstanden ist.
Dennoch, oder gerade deshalb, erfahren wir bei Retzer Vielschichtiges über Liebe und Ge-walt, von den vielen Spielarten von Krankheit und der Ungewissheit der Gesundheit, vom Nutzen des Problems, vom Guten des Schwierigen und der Last des Richtigen und weiteren verknüpft bewerteten Phänomenen. Nichts ist bei Retzer einfach nur, was aus Gewohnheit so scheint, sondern es schließt immer auch das Umgedrehte mit ein, bleibt nicht isoliert betrach-tet. Nichts ist nur eindeutig und für immer das Gleiche. In einem psychosozialen Vakuum findet keine Bedeutung statt. Haltungen, Handlungen und Erlebnisweisen haben Konsequen-zen und erweisen sich erst in Kontexten, die ein Verhältnis herstellen. Was zur einen Rich-tung geht, kann zur anderen unmöglich werden. Was mal schlecht war, muss nicht auf ewig hindern. Was hier problematisch ist, kann dort gern gesehen werden. Das Buch ist ein einzi-ger Exkurs gegen inhaltliche Platituden und generalisierende Festschreibungen und allein deshalb schon anregend zu nennen.
Dazu eine kurze Leseprobe aus dem Kapitel Ethik. Der zitierte Abschnitt beschäftigt sich mit den Begriffen Neutralität und Verantwortung:
„Neutralität ist die grundlegende therapeutische Methode zur Erzeugung von Neuem und von Veränderung im Klientensystem.“ (172)
„Die Gefahr, dass nicht das Klientensystem, sondern das therapeutische System (Therapeut plus Klient) zur Überlebenseinheit des Klienten – und häufig dann auch des Therapeuten – wird, besteht dann, wenn der Therapeut zu der Überzeugung gelangt, sein Klientensystem leide unter einem Defizit oder vollziehe Verhaltensweisen, die gestoppt, eingegrenzt oder verhindert werden müssten. Er kann sich dann veranlasst sehen, dieses Defizit durch kompen-satorische Operationen zu füllen, etwa durch Realisierung von etwas nicht Vorhandenem oder Abhandengekommenen. Er kann sich aber auch aufgerufen fühlen, Vorhandenes zu kontrol-lieren oder zu unterbinden. Dadurch (...) verhindere er Schlimmeres. (...) Es besteht dann für die Klienten keine Notwendigkeit mehr, eigene Ressourcen zu mobilisieren oder zu entwi-ckeln oder bisher nicht Genutztes zu nutzen, da die Verantwortung für die Entwicklung und den Vollzug der entsprechenden Funktionen schon vom Therapeuten übernommen wurde.“ (173)
„Ethik (Und die Methode der Neutralität, d. Vf.) hat aber auch ihre Grenzen. In der Psycho-therapie ist diese Grenze die Moral des Psychotherapeuten. Der Therapeut hat – ob er will oder nicht – immer wieder aufs Neue zu unterscheiden, (...) kann man sich angesichts der Ta-ten, Haltungen, Ungerechtigkeiten, Machtverhältnissen usw. neutral verhalten? Diese Ent-scheidung ist eine moralische Entscheidung. Niemand (z.B. eine Ethikkommission) kann dem Therapeuten diese Unterscheidung und anschließende Entscheidung abnehmen.“ (184)
Retzer wendet sich, das wird GestalttherapeutInnen erfreuen, in einem großen Kapitel dem Selbst zu, will sagen, verschiedenen Selbst-Definitionen und Unterscheidungsvorschlägen für den therapeutischen Kontext. Herausragend ist sein historischer Exkurs zu Rousseaus Selbst-Begriff bzw. die Darstellung des Verhältnisses von Rousseaus Selbst-Reflexion und seiner Selbstentwicklung, der Parallelprozesse des Werdens seiner philosophischen Ideen und seines Weges in die Psychose. Rousseau wird gewürdigt als Vorseher der Moderne und ihrer The-men wie Selbsterkundung, Selbstbestimmung, Innerlichkeit und Autonomie.
Wie wir uns selbst gestalten im Erzählen, in der Organismus-Umfeld-Interaktion, zeigt Retzer am kommentierten Transkript einer Einzeltherapie, die eine gute Illustration dafür ist, wie der Autor konsequent seine eigenen Kriterien anwendet.
Zwei Kapitel zu wichtigen existenziellen Grenzgebieten schließen das Unterwegs-sein ab: Zunächst Suizid, die elementarste Fragestellung an das Sein. Mit kulturhistorischen Querver-weisen wird auf die christlich geprägte Unterscheidung des guten und schlechten Tods rekru-tiert. Gut war der Tod Jesu als Treuebeweis gegenüber Gott, Sünde der Selbstmord des Judas. Sünde deshalb, weil er das Erbarmen Gottes und die Vermittlerrolle der Kirche in Form der Beichte in Frage stellt. Retzer zeigt an vielen Beispielen, wie über die Jahrhunderte Macht- und Herrschaftsansprüche bei der sich wandelnden Bewertung des Suizids eine Rolle gespielt haben und führt einen offenen Diskurs über den Freitod, jenseits von Macht, Krankheitsbeg-riffen und Gewissheiten wie er es überschreibt. Nebenbei wirft er hier auch die Frage der Unterscheidung von Therapie und Kontrolle auf.
Das Kapitel Risiko - der Verweis in die zu lebende ungewisse Zukunft - beschließt die Ex-kurse. Arnold Retzer sieht ein Kennzeichen des modernen Menschen in seiner Selbstüber-schätzung und dazu gehörenden tiefen Verunsicherbarkeit. Nie zuvor haben wir uns mehr als die Urheber der Geschehnisse begriffen, erfahren wir uns direkter für die Gestaltung der Welt verantwortlich. Wer auf diese Weise die Grundlage des Lebens nicht mehr als external geord-net erlebt, nicht mehr von Gott geregelt, sondern als Maß menschlicher Entscheidungen, lebt unter der ständigen Drohung des Selbstscheiterns. Handeln ist unter diesen Umständen grund-sätzlich riskant, um so mehr durch das weitgehende Fehlen letzter, sicherer, leitender Gründe des Handelns. Die Postmoderne bildet nach dieser Einschätzung den gesellschaftlichen Rah-men für die alte gestalttherapeutische Maxime der Unmittelbarkeit und Selbstverantwortung.
Das war im Mittelalter in Deutschland noch ganz anders. Es gab, sprachlich betrachtet, kein Substantiv für Zukunft, nur eine Bedeutung im Sinne von ankommen. Zukünftiges, die An-kunft Gottes, war eine zeitlich begrenzte Vorsehung und bewegte sich unveränderlich auf den Menschen zu. Das Leben fand in einer Art dauerhafter Adventsstimmung statt. Das, was in Zukunft geschehen würde, war bereits in der Vergangenheit angelegt. Das minderte individu-elle Verantwortlichkeiten und Risiken enorm. Das alles, was geschieht, in der Gegenwart stattfindet, es dennoch sinnvoll ist, zwischen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Gegenwarten zu unterscheiden und gegenüber dieser Zeiteinteilung zu entscheiden, ist eine relativ moderne Vorstellung. Risiko wird somit Selbst-verständlich und Sicherheit kann eine riskante Illusion sein, wie der Autor es in einem schließenden Statement formuliert.
GestalttherapeutInnen können von Arnold Retzer Themen-inhaltlich und Therapie-strategisch viel lernen. Nicht ganz so viel von der eingeschränkteren systemischen Handlungspraxis, da unterscheiden wir uns, wie bereits gesagt, durch unsere komplexeren Erfahrungsinduktionen, aber deutlich aufgrund der prozessorientierten, systemisch-gestalttheoretischen Übereinstim-mungen und insbesondere von seinen thematischen Unterscheidungen und den angebotenen formalen Orientierungsschemata, die an verschiedenen Stellen wie Baukästen übersichtlich eingefügt sind. Die Komplexität des Lebens ist hier in einem notwendigem Ausmaß kalkuliert und verarbeitet zugleich, so dass damit eine hinreichende Ökonomie der Praxis gewährleistet ist, ohne monothetisch dünne oder schwergewichtig festgelegte Blickwinkel und Verfahren anbieten zu müssen. Ich persönlich profitiere sehr durch solche eher heterogenen, d.h., kultur-historisch, systemisch, und logisch-pragmatisch gleichermaßen durchwebten Ausarbeitungen, wie Arnold Retzer sie präsentiert.
Ich würde mir ähnlich aufbereitete vielschichtige Themensammlungen, ähnlich formalisier-bare und eng am Leben ausgerichtete Verortungs- und Ordnungsversuche für die Praxis auch mehr von Gestalt-AutorInnen wünschen. Eine gute Gelegenheit weiterzudenken, bietet der ‚fehlende’ Abschnitt Ankunft. Wenn ich eingangs sagte, es sei konsequent, hier nichts mehr inhaltliches auszuführen, dann meine ich: wenn man Prozesse wie Arnold Retzer denkt. Für GestalttherapeutInnen böte sich an dieser Stelle die Gelegenheit, über ‚seelische Erfülltheit’, über das ‚Angekommen sein’‚,schöpferische Pausen’, über ‚kreatives Nichtstun’, über die paradoxe Kraft von ‚Enttäuschung’‚ ‚Unerreichtem’ und ‚Verlust’, über ‚Verzicht’ und ‚Nie-derlage’, usw. nachzudenken. Hier, sozusagen im intrapersonalen Verarbeitungs- und Integ-rationsterrain von Erfahrungsprozessen, hört wohl die Zuständigkeit des Systemikers auf? Jedenfalls liegt dort nicht die praktische und theoretische Grenze der Gestalttherapie.
Detlef Klöckner




Rezensent: Michael Rentschler, Reutlingen
Aus: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung

Heilige und Sesshafte bitte zurücktreten! Einkaufs-, Schiffs- und sonstige Passagen stecken
bekanntlich voller Überraschungen und Gefahren. Auch Mitglieder Schwäbischer oder ande-rer Alb-Vereine werden von RETZER, Heidelberger Facharzt für Psychotherapeutische Me-dizin und Privatdozent für Psychotherapie, nicht bedient: Weder finden sich ordentliche An-weisungen, wie sich die wanderbereite Familie aufzustellen habe, noch gibt es Abhandlungen zu frühkindlichen Fuß-Traumata, die etwa schwere Wander-Phobien Erwachsener erklären könnten ... – Der Autor ist vielmehr ein Freund freischwebender Vagabunden, und diese mö-gen sich ungern den „richtigen“ Weg zeigen lassen. Wohl aber speist sich die Lust an der Freiheit wesentlich aus der Kenntnis ihrer Koordinaten: Sprache, Raum und Zeit sind es, die unsere Bewegung, unsere Ausgänge (= 1. Kapitel) vom Hierbleiben unterscheidbar machen.
Gerade weil dem (psychotherapeutischen) Beobachter „Probleme“ überwiegend in Form
sprachlicher Konstrukte angeboten werden, vermag er seinerseits mittels Sprache vordem
ungedachte Möglichkeitsräume zu eröffnen und somit den Fokus vom „Problem“ auf die die-sem schon innewohnende Lösung zu verschieben. – Dem entspricht denn auch RETZERS
wohlbegründete Skepsis gegenüber einer sei es durch analytische Erinnerung, sei es durch
eschatologische Erwartung „zerdehnten“ Zeit. Denn wie die aufgeweckteren Köpfe unter den
Historiker(inne)n so sollten sich auch die Therapeut(inn)en zu der Einsicht bequemen, dass
„Geschichte“ zuvörderst ein Konstrukt der je Gegenwärtigen, also wandelbar ist. – Bezüglich
des Raums hebt der Autor vor allem auf die Unterscheidung von innen und außen ab und
verweist unter anderem auf die heilende Potenz der Schwellenrituale animistischer Thera-peuten: „Die schamanistische Ätiologie des krankmachenden Dämons und das entsprechende Heilungsritual des Exorzismus operieren beide mit der Topografie von innen und außen“ (S.100). Wobei es heute selbstverständlich nicht um die Austreibung eines als böse gedachten „Problems“ gehen kann; wohl aber um die Ermöglichung einer Neukonstruktion von Identität, indem der Patient durch deren personalisierte Verdinglichung gleichsam eine aktive Bezie-hung zu seiner Krankheit aufzunehmen vermag – anstatt sie wie einen unveräußerlichen Be-sitz und unverrückbar zu „haben“.
Ausgestattet mit diesen trigonometrischen Orientierungspunkten – nämlich Perspektiven und
Methoden der psychotherapeutisch orientierten systemischen Theorie und Praxis –, können
wir im Folgenden hoffen, unterwegs (= 2. Kapitel) im beruflichen oder persönlichen Alltag
weder Schiffbruch zu erleiden noch nachhaltig unter die Räder zu kommen. Anlässe gäbe es
bekanntlich genug, und wenn auch deren Auswahl bei RETZER sicher nicht erschöpfend ist, so fühlen wir uns doch einstweilen gut beschäftigt: Durch einen Rekurs auf medizinsoziologi-sches Schrifttum erfahren wir zum Thema Krankheit nicht zuletzt, dass heutzutage auch und gerade deviantes Verhalten gute Chancen hat, zu einem medizinischen Problem gewendet zu werden; dies ist zweifelsohne gerade für Vaganten von Interesse, die sich mit Fleiß, aber wohl nicht immer ganz ohne schlechtes Gewissen der „angebotsinduzierten Nachfrage“ (S. 129) nicht anschließen möchten, an der sich das Gesundheitssystem mehr und mehr orientiert. Je-den-falls ist gerade die Relativierung des Unterschieds von krank und gesund eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich Patienten nicht (länger) auf diese griffige Dichotomie reduzie-ren lassen und somit auch neue Möglichkeiten des Umgangs mit sich selbst finden können, die im medizinischen Warenkatalog üblicherweise nicht vorgesehen sind. – Aber nicht nur wohlmeinenden Sanitätern oder studierten Ärzten der Feldlazarette ist der verletzbare Wande-rer ausgesetzt, sondern bekanntermaßen auch vielfältigen Formen nackter oder versteckter Gewalt. Ob Milgram-Experiment oder Holocaust, ob familiäre Gewalt oder die Allgegenwart „richtiger“ Kriege – stets, so macht der Autor plausibel, stets ist eine ambivalenzfreie Heils-bot-schaft – sie möge „Volk“, „Nation“, „Vernunft“, „wissenschaftliche Objektivität“ oder auch „Liebe“ heißen – fruchtbarer Nährboden für das Entsetzliche. Darum sind die Erzie-hungs-bemühungen aller Gutmenschen gleich welcher Couleur a priori zum Scheitern verur-teilt, solange sie nicht Autoritäts- und Ideenpluralismus, solange sie nicht eine „Respektlosig-keit gegenüber der Idee der Eindeutigkeit“ (S. 159) zu fördern vermögen. Erst wenn wir vom Bestreben ablassen könnten, Paradoxien aufzulösen, müssten sie nicht mehr gewaltsam ins Leben treten. – Welche Rolle aber könnten dabei Ethik und Moral spielen? Auch hier ent-täuscht der Autor und setzt dem verbreiteten Wunsch nach Wegweisern die strikte Neutralität des Therapeuten gegenüber Werten, Lebensentwurf und Zielen des Klienten entgegen; denn letzterer „entscheidet darüber, was neu ist – nicht der Therapeut“ (S. 173). Und während es allerlei Ethikkommissionen offenbar zunehmend im moralischen Zeigefinger juckt, stellt der Autor gelassen fest, dass kein Therapeut wissen kann, was für seine Klienten „gut“ oder „richtig“ ist – wohl aber kann er im Rahmen einer „ethischen Kommunikation“ für jenes Maß an Irritation sorgen, das es plausibel erscheinen lässt, nicht ein für allemal, sondern jeweils neu zu unterscheiden, zu entscheiden und zu handeln. – Aber wie und wo sollten sich bei sol-cher Offenheit die Kontinuität und Kohärenz eines Selbst finden lassen? Ebenso feinfühlig wie schonungslos führt der Autor zu der Einsicht, dass unsere Reise-Erzählung im allgemei-nen ohnehin weit kohärenter und stringenter ist als es die Reise selber gewesen war. Denn wir versuchen in unserem Bedürfnis nach „Sinn“ „biographische Lösungen für Systemwidersprü-che zu finden“ (S. 188), die nur allzu deutlich an die Funktion von Mythen gemahnen. Und während beispielsweise ein ROUSSEAU sich auf dem Weg zu einem „modernen“, radikal indi-vidualistischen Selbstkonzept zugleich der Paranoia näherte, ist der nicht weniger radikale MONTAIGNE davon verschont geblieben – mutmaßlich weil er der Idee von Kohärenz be-wusst eine Sammlung von Skizzen und Aphorismen entgegensetzt, die allesamt ihren Bezug zu sozial vorfindlichen Ereignissen, Befindlichkeiten oder Strukturen haben. – Mit dem Hin-weis auf das Skizzenhafte auch einer jeden Passagen-Fahrt hätte die hier referierte vielleicht ein vorläufiges Ende finden können. Doch ohne das Purgatorium grundstürzender Verzweif-lung werden wir weder hier noch sonst ins Leben entlassen: Nach dem Wegfall zu befürch-tender Höllenstrafen ist der Suizid zunehmend zu einem medizinischen Problem geworden, dem scheinbar nurmehr mit psychiatrischer Kontrolle zu begegnen ist – und sei es auf dem Weg einer autonomieeinschränkenden Diagnose. Dem setzt RETZER, auch und gerade im therapeu-tischen Diskurs, die Unentscheidbarkeit der Frage entgegen, ob es sinnvoller zu leben sei als zu sterben. Diese „existentielle Neutralität“ (S. 267) schafft einen Möglichkeitsraum, in dem sich der Suizidant nicht länger notwendig als Problemopfer definieren muss, sondern Autonomie zurückgewinnen kann. – Entscheiden wir uns dann also doch zur irdischen Wei-terreise, sind wir freilich auch weiterhin dem ausgesetzt, was die Zukunft auszeichnet: dem Risiko.
Auf der Grundlage eines ausführlichen Fallbeispiels und in Anlehnung an LUHMANN zeigt der Autor aber, dass gerade das Unbekanntsein der Zukunft eine der Bedingungen der Mög-lichkeit von Entscheidungen überhaupt ist; und „mit jeder Entscheidung kann eine neue Ge-schichte beginnen“ (S. 291). Anders gewendet: erst die historisch späte Erfindung einer offe-nen Zukunft hat „Sicherheit“ zu einem weithin unbefragten Wert gemacht. Dessen groteske Auswüchse können sicher nicht mit den Werten von gestern konterkariert, wohl aber durch ein „kontextgebundenes Herumwursteln“ (S. 302) abgelöst werden – eine alltagsnahe Ratio-nalität also, die per se kommunikativ und damit verhandelbar ist.
Nach diesen zumeist spannenden, oft überraschenden, aber durchaus auch anstrengenden Pas-sa-gen hoffen der Leser und die Leserin, mit der schließlichen Ankunft (= 3. Kapitel) endlich im systemisch ausgepolsterten Schoße Heidelberger Lebensklugheit ein wenig verweilen zu können. Doch der Autor, Meister der Irritation, entlässt uns stattdessen mit den letzten Worten Buddhas: „Geht weiter!“
Michael Rentschler