Rezensionen Familientherapie


Retzer, A.: Systemische Familientherapie der Psychosen
Göttingen (Hogrefe)



Rezensent: Siegfried Alexander Henzl, www.henzl.at , www.systhemischefamilientheapie.at
Aus: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung

„Psychosen sind widersprüchlich und bewirken oftmals Widersprüchlichkeit. Einerseits stel-len sie eine vielfältige Verlockung dar, für manche Psychotherapeuten und für manche Ent-wicklungen psychotherapeutischer Theorien und Methoden. So ist die Entwicklung der sys-temischen Familientherapie ohne die verlockende Herausforderung der Psychosen gar nicht denkbar“ (S.1). In diesem ersten Satz unter dem Vorworttitel „Die Verlockung des Wahn-sinns“ nennt Retzer scheinbar sein urpersönliches Ansinnen, sich der Verlockung einer sys-temisch theoretischen und methodischen Grundlegung der Psychosetherapie in der systemi-schen Familientherapie zu stellen. Als Mitglied der Heidelberger Gruppe war Retzer nicht unwesentlich an einer systemisch klinischen Theorienbildung der systemischen Familienthe-rapie der Psychosen beteiligt. Auch wenn dieses Unternehmen nun schon fast eineinhalb Jahrzehnte zurückliegt ist an der thematischen Brisanz, vor allem in therapeutischen Kontex-ten wie Psychiatrie, ambulante therapeutische Betreuungseinrichtungen, etc., noch nichts verloren gegangen. Retzer legt jetzt nach meiner Beurteilung ein Lehrbuch systemischer Psy-chosetherapie vor, welches angehende oder seiende Psychotherapeuten in die Grundprinzi-pien systemischer Familientherapie einführt. In einem weiteren Kapitel wird ein systemisches Psychosemodell entwickelt. Über fast die Hälfte des Buches werden im Kapitel „Systemische Familientherapie der Psychosen“ das methodisches Vorgehen durch den systemischen The-rapeuten zusammengefasst. Als interessierter Leser hat man das Gefühl von Retzer mittels markierenden Randüberschriften, behutsam an die Hand genommen und geführt zu werden, durch die Niederungen systemischer Begrifflichkeiten oder Konzeptionen von Kommunika-tion und „psychotischen Konfliktmanagements“, synchroner und diachroner Zeitorganisation. Am Ende eines jeden Kapitels steht eine kurze Zusammenfassung. Damit wird für den Leser die ungemeine Dichte und Komplexität des Beschriebenen reduziert. Auf Seite 57 versucht Retzer klar zu machen, dass es sich beim „systemischen Psychosemodell“ um ein Modell und nicht die Wirklichkeit handelt. „Ein Modell soll ein Verständnis einer komplexen Situation und eine leichtere Orientierung in dieser komplexen Situation ermöglichen, wie es etwa eine Landkarte als Modell einer Landschaft tun kann.“ Damit unterscheidet er sich zu anderen Theoretikern und ihren Theorien, die scheinbar eine Realität von Psychose suggerieren wol-len. Die theoriebildende Arbeit basiert auf der konstruktivistischen These, Krank heit als eine Bedeutungsgebung von Phänomenen durch einen Beobachter zu definieren. „Der Beobachter entwickelt durch seine Beschrei bungen, Erklärungen und Bewertungen eine mehr oder we-niger kom plexe Krankheitstheorie (S.113)“. Damit erzeugen Beobachter vielmehr kommu-nikative und soziale Wirklichkeiten, die mit Begriffen wie Beziehungsgestaltung und/oder Beziehungsrealität zu einer differenzierten Darstellung der Psychosen führen. Retzer zeigt auf, wie eng der positive Verlauf psychotischer Karrieren nach systemischer Familientherapie damit beknüpft ist, „wie weit sich Krankheitskonzepte des Patienten und dessen Angehörigen erweichen oder auflösen lassen“. Um dieses Ziel zu erreichen werden folgende Vorgangswei-sen diskutiert: Die sprachliche Transformation von Eigenschaften in Verhalten, die zeitliche und räumliche Kontextualisierung des Verhaltens, die Beschreibung von Interaktionszirkeln zwischen den Verhaltensbeiträgen von relevanten Personen, die Beschreibung der Erzeugung der Symptomatik und die Veränderung der Topografie der Probleme mittels doppelter Exter-nalisierung. Beispielhaft sei hier aus dem Buch herausgegriffen, wie Retzer aus der thera peutischen Praxis theoretisiert und mit rekursiver Präzision Aus-und Wechselwirkungen des kommunikativen Prozesses im therapeutischen Setting deutlich macht. Seiner Meinung nach fordern etwa schizophrene Verhaltensweisen, die sich in einer extremen Gleichzeitigkeit der synchronen Dissoziation und einer damit einhergehenden Illusion der Ambivalenzfreiheit zeigen, vom Patienten aber zumeist selbst als eine selbst konfusionierende Getriebenheit er-lebt wird, den Therapeuten heraus. Extrem weiche Beziehungsrealitäten vermeiden aus seiner Sicht Konflikt, Trennung und Schuldzuschreibung durch Kommunikationsuneindeutigkeit und -abweichung. „Durch die Vermeidung verlässlicher Kommunikationsmuster, Bezie-hungsstrukturen und -definitionen wird versucht, dies zu erreichen. Ergebnis ist die Erzeu-gung von Bedeutungslosigkeit bzw. Bedeutungseindeutigkeit. Abgrenzung und ein Gefühl von Autonomie wird durch Unverstehbarkeit hergestellt (S.147)“. Warum aber Familienthera-pie? Es geht heute nach Retzer in der systemischen Familientherapie nicht mehr darum, so wie noch nach der Mitte des letzten Jahrhunderts, die Familie als verursachenden Entwicklungsrahmen psychotischen Verhaltens zu erforschen. Vielmehr geht es um die Be-reitstellung einer krankheitsadäquaten familiären Umgebung oder Betreuung. Dabei zeigt sich immer deutlicher, welche antipsychotische Wirkungen und Möglichkeiten das familiäre System und die familiäre Kommunikation haben können. Nach systemischer Familienthera-pie, so eine Katamnesestudie zur Evaluation systemischer Familientherapie bei Psychosen, zeigte sich eine Reduktion der Rückfall-Raten und eine Besserung. Darauf wird am Ende des Buches, unter der Überschrift Evaluation und Schlussfolgerungen für die Praxis abschließend eingegangen. Fazit: Ein Buch, das herkömmliche Vorstellungen über Therapie psychotischen Verhaltens in Frage stellt und versucht, die aus einer mit Mythen belegten Tradition erwach-senden Hintergründe im Umgang mit Psychosen aufzuweichen.
Siegfried Alexander Henzl




Rezensent: Gerhard D. Ruf, Asperg
Aus: Zeitschrift: Familiendynamik und Amazon

Unter Anwendung von Systemtheorie und Konstruktivismus auch auf das eigene Modell er-hebt Arnold Retzer nicht den Anspruch, das Phänomen der Psychosen in all seinen Aspekten darzustellen, ätiologische Erkenntnisse oder gar Gewissheiten zu liefern, sondern es soll "ein pragmatisches Handwerkszeug zur Orientierung und Handlungsanleitung für Familienthera-peuten" (S. 57) sein, das seine Validität aus der inneren theoretischen Konsistenz und aus der am Ende des Buches vorgestellten Evaluation bezieht.
Das Buch beginnt mit einer Provokation. Weil man in der alltäglichen Praxis dazu verführt werden kann, "die Erklärung der Welt mit der Welt zu verwechseln und den Mythos für die Tatsache zu nehmen" (S. 6), beschreibt er kursierende psychiatrische Mythen, die als "Welt-erklärungen" weder richtig noch falsch sein können. Die Mythen über eine genetische Verur-sachung und schlechte Prognose der Schizophrenie, über die Notwendigkeit einer biologi-schen Behandlung und die Nutzlosigkeit von Psychotherapie werden in ihren sozialen Kon-text gestellt. Systemische Familientherapie wird als Übergangsritual mit drei Phasen konzep-tualisiert: Die Ablösung aus den alten und problematischen Strukturen erfolgt durch Erzeu-gung von Unterschieden durch den Therapeuten, womit er Problem erhaltende zirkuläre Pro-zesse im Klientensystem stört; in der Schwellenphase werden die Unterschiede balanciert; die Wiedereingliederung in eine neue soziale Struktur erfolgt durch Veränderungen auf der Handlungsebene.
Retzer beschreibt sodann ein Modell schizophrener, manisch-depressiver und schizoaffektiver Psychosen aus den Perspektiven der Zeitorganisation, der Beziehungsgestaltung und der Kon-fliktorganisation mit jeweils spezifischen Mustern. Daraus leitet er die Vorgehensweise bei der systemischen Therapie der Psychosen ab. Eine Entpathologisierung symptomatischer Verhaltensweisen ist mit den vorgestellten systemischen Methoden möglich, die unter ande-rem auf eine Wiedereinführung des "exkommunizierten", weil sich unverständlich zeigenden Indexpatienten in die Kommunikation abzielen. Die angeführte Evaluationsstudie bestätigt in eindrucksvoller Weise die Wirksamkeit des vorgestellten Theorie- und Therapieansatzes mit einer Reduktion der Rückfallrate um 74%.
Arnold Retzer hat in diesem Buch seine in früheren Veröffentlichungen zum Teil schon vor-gestellten systemischen Theorien zu einem in sich geschlossenen Psychosemodell weiterent-wickelt und präzisiert, das aus der Theorie schlüssige Handlungsanweisungen ableitet und nicht nur Familientherapeuten, sondern allen professionellen Helfern ein gutes Rüstzeug zum Umgang mit psychotischen Patienten und deren Familien liefert. Das Werk bereichtert Systemiker mit der speziellen Theorie und Vorgehensweise bei Psychosen. Leser, die bisher noch keinen Kontakt mit systemischen Ideen hatten, werden eingeführt in eine neue und fas-zinierende, vor Burn-out-Syndromen schützende Denkweise im Umgang mit der Patienten-gruppe, die in der Psychiatrie nach wie vor als die am schwierigsten behandelbare gilt. Ich möchte dieses anregende und gut lesbare Buch jedem, der mit psychotischen Klienten arbei-tet, sehr empfehlen.
Gerhard D. Ruf