Interviewer: Michael Mary
Mary : Herr Retzer, angeblich gehört es zu den Geheimnissen erfolgreicher Paare, ihre Beziehung bewusst zu gestalten. Was fangen Sie mit dieser Vorstellung an?
Retzer: Fangen wir am Anfang an: Was sind erfolgreiche Paare? Woran erkennt man sie? Was muss an denen beobachtet werden? Kann Erfolg überhaupt beobachtet werden und vor allem: Wer ist der Beobachter, der als maßgebende Messgröße für Erfolg auftreten darf. Der paartherapeutische Spezialist? Welcher therapeutischer Schule? Der Statistiker, der Liebhaber der großen Zahlen (Scheidung als (Miss)erfolg, Anzahl der Kinder als (Miss)erfolg, Anzahl von sexueller Begegnung im Monat als (Miss)erfolg....) oder kann es gar dem paartherapeutischen Laien, d.h. dem Paar selbst überlassen werden, über Erfolg und Misserfolg seiner Paarbeziehung zu werten? Was aber, wenn die beiden Beteiligten an einer Paarbeziehung nicht zum gleichen Ergebnis kommen? Ist das dann Ausdruck eines erfolgreichen oder eines misserfolgreichen Paares.
Wenn nun aber schon das Kriterium von Erfolg und Misserfolg so schwer zu bestimmen ist, wie dann erst die Frage nach dem bewussten Gestalten. Kann man überhaupt etwas anderes tun als bewusst gestalten? wenn man bewusstlos ist, gestaltet man dann überhaupt? Was ist die Alternative zum bewussten Gestalten, das bewusstlose oder gar das unbewusste Gestalten oder etwa gar das einfach nur Geschehen/lassen?
Also mir graust ein wenig bei der Vorstellung, wenn Paare wieder beginnen bewusst zu gestalten und noch mehr, das als Bedingung des Erfolges zu sehen. Allerdings scheint es mir durchaus nicht abwegig, wenn man als Beteiligter an einer Paarbeziehung mit dem einen oder anderen Phänomen nicht zufrieden ist, sich die Frage zu stellen, wie kann ich die Beziehung zu meinem Partner/meiner Partnerin anders gestalten, um diese mich störenden Phänomene vielleicht nicht mehr oder nicht mehr so oft auftreten zu lassen.
Zusammengefasst scheint es mir sinnvoll bei der Beseitigung von Schwierigkeiten bewusst zu gestalten, weniger dagegen bei dem Versuch den Erfolg herzustellen bzw. zu sichern. Der Grund für diese Unterscheidung ist der, dass eine Analyse dessen, was ich tue, um ein Problem herzustellen, oftmals viel mehr Veränderungen ermöglicht als der Versuch die Lösung bewusst herzustellen. Wenn ich weiß, wie ich das Problem herstellen und gestalten kann, kann ich durch einfaches Weg- oder Unterlassen das Problem nicht zustande bringen.
Mary: Beziehungen sollen von neurotischen Anteilen befreit werden, es sollen liegen gebliebene Entwicklungsaufgaben der Sozialisation darin aufgenommen werden, Autonomie und Symbiose sollen ins richtige Verhältnis gebracht werden, mit dem Ziel, eine konsolidierte Bindung zu erreichen. Das klingt nach tiefenpsychologischer Schwerstarbeit.
Retzer: Das klingt vor allem danach, dass derjenige, der diese Aufgaben formuliert Bescheid weiß und nun die Andern, die Unwissenden aufzuklären hat. Was wäre denn eine Paarbeziehung ohne neurotische Anteile? Schließlich haben wir doch alle unsere Vorstellungen von Paarbeziehung, die von irgendwoher kommen, nur nicht aus der Paarbeziehung auf die wir unsere Vorstellungen richten. Vorstellungen es genauso zu machen wie Papa und Mama, oder es gerade nicht so zu machen wie Papa und Mama es uns vorgemacht haben, es so zu machen, wie man es in Märchen, im Kino oder sonst wo gesehen hat ... Ohne solche Vorstellungen ließe sich wahrscheinlich ohnehin niemand mehr auf eine Paarbeziehung ein.
Mary: Ein Therapeut sagt: Die Liebe in ihrer Vielfalt sucht zu ihrer Entfaltung nach ganzheitlicher Erfüllung, nach der Vereinigung von Kosmos und Abwasch. Die Liebe zu erlernen, erfordert daher von den Liebenden vielfältige Fähigkeiten, die alle menschlichen Dimensionen mit einbeziehen. Was halten Sie von der Therapie der Liebe. Kann man Liebe lehren und lernen?
Retzer: Ich halte die Idee des Lernens und der Lehrbarkeit für eine massiv überschätzte Idee. Insbesondere überschätzt bzw. missverstanden halte ich jedoch die Idee, die Liebe zu erlernen. Dazu muss zunächst einmal geklärt sein, was denn die Liebe überhaupt ist, bzw. was man darunter verstehen will. Ich habe in meinem letzten Buch Systemische Paartherapie (Stuttgart 2004) die Liebe als einen Kommunikationscode bezeichnet, mit dem eine bestimmte nach bestimmten Regeln organisierte Form einer Paarbeziehung sich konstituiert und operiert: die Liebesbeziehung. Diese lehren oder gar lernen zu wollen ist absurd. Eine Liebesbeziehung geschieht einem/oder auch nicht andernfalls ist sie keine Liebesbeziehung. Die Liebe muss man nicht lernen, das nimmt man sozusagen mit der Muttermilch auf, bzw. wird einem durch das Fernsehen und vor allem durch das Kino wiederholt und aktualisiert vermittelt.
Erklärungsbedürftig ist also nicht die Frage, wie lernt man die Liebe, wie bekommt man eine Liebesbeziehung, sondern wie verlernt man die Liebe, d.h. wie kommt einem die Liebesbeziehung abhanden. Das sind nun wieder hochinteressante und wie ich meine hochtherapeutische Fragen. Also von der Frage die Liebe lernen zu der Frage was geschieht, was tut man, damit einem die Liebe abhanden kommt, bzw. man etwas anderes an seine Stelle treten lässt
Mary: Lässt sich die Entwicklung einer Beziehung Ihrer Ansicht nach so kontrollieren, dass sie den Wünschen der Partner entspricht?
Retzer: Kontrollieren ist ja gegenwärtig ein hoher Wert. Wahrscheinlich deshalb, weil Sicherheit immer weniger zu haben ist und man annimmt, dass Kontrolle das Unsichere sicherer machen könnte. Verständlich daher der weit verbreitete Wunsch, dass auch der Partner/die Partnerin wie eine (funktionierende) Waschmaschine oder ein (funktionierender) Videorekorder funktionieren sollten. Leider tun sie es ja nicht, sondern funktionieren unkontrollierbar und oft genug auch unberechenbar, etwas, was in grauer Vorzeit, am Beginn einer Paarbeziehung sogar einmal attraktiv und gelegentlich sogar erotische Qualitäten hatte. Aber ein Partner/eine Partnerin ist nun mal nur schwer zu kontrollieren, die Beziehung selbst natürlich noch schwerer. Diese Idee der Kontrolle in Frage zu stellen und aufzugeben könnte eine der Funktionen von Paartherapeuten sein, denn mit dieser Idee ist meist viel Leid und Kummer verbunden.
Das heißt aber andererseits nicht, dass wir jeglichen Einfluss auf die Paarbeziehung und den Partner gleich mit aufgeben müssten. Meist gehen wir davon aus, den Partner und die Paarbeziehung (vielleicht doch noch) dorthin zu bringen oder bringen zu wollen/zu können, wo wir sie hinhaben wollen oder denken. Der bescheidenere Ansatz der Einflussnahme kann aber darin bestehen, zu analysieren was man tut. Wie man also beeinflusst und vor allem das entstehen lässt, über das man sich dann wieder beklagen kann. Es kann also dann darum gehen von der Idee der Kontrolle und Erzeugung des Erfolges hin zum Einfluss und der Erzeugung des Misserfolges zu gehen. Dabei kann die Rolle des Paartherapeuten, die der Assistenz bei der Untersuchung des Problems und der Erzeugung des Problems sein. Die entscheidenden Schlüsse aus dieser Untersuchung kann ohnehin nur das Paar und nicht der Paartherapeut ziehen.
Mary: Lässt sich Ihrer Meinung nach die erotische Lust üben? Das wird Partner von zahlreichen Therapeuten empfohlen. Schließlich müsse man alles andere, das Lust bereitet, wie Musizieren, Tanzen, Sport usw. auch üben.
Retzer: Ich weiß nun nicht, ob hier meine eigenen neurotischen Anteile zutage treten oder ob ich da eine besondere Lernmacke habe, aber Üben und Übungen und Lust haben nun für mich wahrlich nur wenig miteinander zu tun. Im Gegenteil, beim Üben hört die Lust doch meistens auf. Etwas anderes und strickt davon zu trennen ist, meines Erachtens allerdings, die Frage nach den Bedingungen von Lust, auch erotischer Lust, zu stellen. Wenn Sexualität etwa die Bedeutung eines Beziehungstests hat, also ungeheuer bedeutungsgeladen ist, dann ist das sicher eine ungünstige Bedingung um erotische Lust zu empfinden. Ebenso, wenn Sexualität zu einem Spielfeld der Austragung von Machtkämpfen geworden ist, oder wenn Sexualität zu einer politisch korrekten Veranstaltung im herrschaftsfreien Diskurs der Geschlechter, unter Vollzug von verbalen Achtungs- und Würdigungsritualen, verkommen ist, dann sind das auch nicht die günstigsten Bedingungen zur Erzeugung erotischer Lust. Also, auch hier ist wieder die Frage: Wie schafft man es erotische Unlust zu erzeugen, bzw. Sexualität zu verhindern. Ein Weg dazu ist die Bedeutungsaufladung der Sexualität, wobei umgekehrt, natürlich, auch die Bedeutungslosigkeit eine Lustvermeidungsstrategie sein kann, wenn Sex nichts mehr bedeutet, bedeutet Sex auch keine Lust mehr.
Mary: Ich meine, neue Entwicklungen im Bereich der Paartherapie wahrzunehmen, vor allem in der systemischen Therapie. Allerdings bezeichnet sich beinahe jeder zweite Therapeut als systemisch, da entsteht eine Verwirrung. Was ist für Sie das spezifische systemischer Paartherapie?
Retzer: Da sprechen Sie ein wichtiges Thema an. Es ist inzwischen nicht mehr klar, was eigentlich systemisch bezeichnet. Diese Bezeichnungsungenauigkeit ist in den letzten Jahren besonders dadurch verschärft worden, seitdem Herr Hellinger und seine Aufstellerei sich ausgebreitet haben und dabei die Bezeichnung systemisch mitgeführt haben. Hier ist ganz unmissverständlich festzustellen, dass das Adjektiv systemisch ein Etikettenschwindel der Hellingeradepten ist, mit dem sie sich den Namen einer seriösen und sorgfältig begründeten Therapieform angeeignet haben, obwohl die systemische Therapie und die Hellingeraufstellerei in großem Gegensatz, ja Widerspruch, zueinander stehen.
In der systemischen Therapie, wie ich sie vertrete, ist die Grundlage aller therapeutischen Handlungen eine gleichberechtigte Kommunikation zwischen Therapeut und Klient oder Paar. Auf Augenhöhe. Der Klient wird von Beginn an in seiner eigenen Sinngebung der Welt und seines Lebens ernst genommen, das heißt in seinem Weltbild, in seiner Krankheitstheorie und auch in seinem Bild von seiner Familie von seiner Paarbeziehung, von deren Zukunft und Vergangenheit.
Dazu dienen therapeutische Strategien, die in der Einladung zur Metakommunikation und nicht die Verweigerung derselben bestehen. Die Rolle des Therapeuten besteht in der systemischen Paartherapie darin, die Klienten zu einer Selbstreflexion ihrer eigenen Person und ihrer relevanten sozialen Umwelt einzuladen und dabei die eigenen autonomen Möglichkeiten der Beschreibung, Erklärung und Bewertung der eigenen Situation wieder zu entfalten und die oftmals abhanden gekommene Verantwortung für eigenes Verhalten wiederzuerlangen. Insofern ist die systemische Paartherapie zu verstehen als ein Emanzipationsprozess, in dem Paare wieder zu Autobiografen ihrer eigenen Geschichte werden können und die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Handlungen nutzen. Dabei werden die Klienten als Personen gesehen, die alle Möglichkeiten und Lösungen bereit haben, das Paar ist also der Wissende und nicht der Therapeut, der durch irgendeine Art der besonderen Sehfähigkeit irgend etwas ans Licht bringen könnte oder über eine Art von Offenbarungswissen verfügt. Die Expertise des systemischen Therapeuten besteht in seinen kommunikativen Fertigkeiten und nicht in irgendeiner Art von Offenbarungswissen.
Mary: Ist es richtig zu sagen, dass ihr systemisches Therapiemodell auf Vorgaben und Entwicklungskonzepte verzichtet?
Retzer: Wenn mit Vorgabe und Entwicklungskonzepten gemeint ist, dass der Paartherapeut vorgibt zu wisse wie eine Paarbeziehung - gar eine gute - zu sein hat und auch zu wissen meint, wohin sich eine Paarbeziehung zu entwickeln habe, bzw. in Paartherapien zu entwickeln ist, dann kann man wohl eindeutig sagen, dass das von mir verwendete Therapiemodell auf solche Vorgaben und Entwicklungskonzepte verzichtet. Oder anders formuliert: Ich weiß nicht, wie man ein richtiges oder gar gutes Paarleben zu leben hat. Je mehr Paare ich sehe, um so erstaunter bin ich oft welche unterschiedlichen Organisationsformen von Paarbeziehungen mit dem Leben vereinbar sind. Ich komme dann einfach nicht umhin mich bei meinen Klienten selbst zu erkundigen, welche Form sie selbst für erstrebenswert, lebenswert oder zumindest für lebbar halten.
Etwas sehr knapp ausgedrückt geht es mir darum, zu wissen, wovon ich meine Klienten wegbringen will, ohne dass ich wissen muss oder weiß, wohin ich sie zu bringen habe. Ganz abgesehen davon, dass ich weiß, wie ganz und gar unwahrscheinlich es ist, jemanden dort hin zu bringen, wo man denkt, dass er richtig aufgehoben ist, wenn er es denn selbst nicht will. Insofern brauche ich also auch kein Entwicklungskonzept, dass die therapeutische Richtung vorgibt.